Als ich vor über Zehn Jahren angefangen habe zu klettern, hörte ich irgendwann von den Drei Zinnen. Irgendwo in Italien. Über 600 Meter hoch sollen die Wände sein, also viermal so hoch wie das Ulmer Münster – und das ist mit 165 Metern jedes Mal aufs Neue schon wirklich beeindruckend – und davon die unteren 300 Meter überhängend! Unglaublich, dass Menschen so etwas hochklettern können, ohne die Nerven zu verlieren. Und das Ganze (so erfuhr ich später) nur an alten, geschlagenen, wackeligen, rostigen Haken. Unvorstellbar.
Dann, 2003, fünf Jahre später. Unser erster eigener Versuch an den Nordwänden der Zinnen. Die leichteste Tour in der Nordwand der Großen Zinne soll es sein, die Comici. Ein Einfachseil, ein paar Keile, keine Windjacken, kaum Erfahrung. Das Wetter macht zu, wir seilen nach fünf Seillängen wieder ab.
Enttäuscht und gleichzeitig erleichtert, dass uns diese Wand lebend wieder ausgespuckt hat, sitzen wir wie paralysiert am Einstieg. Steinschlag von oben holt uns zurück ins Jetzt und lässt uns eilig das Weite suchen. Ab in die Sonne, ab nach Arco, wir sollen wohl erst mal kleinere Brötchen backen.
Comici, Nordwand und noch mehr
Ein Jahr später sind wir zurück: Doppelseile, optimierte Ausrüstung und eine Mischung aus Aufregung, Trotz und Angriffslust. Und es geht! Wir klettern die Comici, wir klettern durch die Nordwand der Großen Zinne! Der Megaklassiker, ein Riesenunternehmen, 16 Seillängen, die unteren 250 Meter hängen über, keine Sonne, keine Bohrhaken, keine Sicherheit, keine Pause für den Kopf.
Du bist toujours unter Strom. Was ein Abenteuer. In der Mitte der Comici schaue ich nach links und sehe, vielleicht 200 Meter entfernt, die Hasse-Brandler, die Direttissima. Die Hardcore-Linie für die echten Profis. Eine 120 Meter lange, überhängende Verschneidung in Wandmitte, alles oberer achter Grad, das Limit, an dem ich mich in der Kletterhalle wochenlang für ein paar läppische Meter abmühe. Und auch da nur alte Rostgurken. Unglaublich.
Der Traum von der Hasse/Brandler
Doch heimlich brennt sich dieses Bild, schleicht sich leise dieser Traum in meinen Kopf. Dann kommen fünf, vielleicht auch sechs Jahre. Wir klettern wie die Irren.So werden wir über die Jahre stärker und stärker, physisch und mental. Gleichzeitig verfestigen sich unsere individuellen Stärken im Team. Stefan gibt all seine Energie in diesen Sport, klettert Neuner onsight, bis X– rotpunkt. Verrückter Kerl.
Ich habe mittlerweile ebenfalls meinen Stil entwickelt, klettere draußen gleich schwer wie drinnen; gebohrte, geschlagene oder keine Haken, (fast) egal, in der Flucht nach vorn auch mal 40 Meter ohne Haken (sorry, Mama!), übertrage meinen Kletterrhythmus aus der Halle an den Fels, klettere draußen Seillängen im achten Grad ebenfalls onsight.
Wir sind so weit. Am Montag muss ich fit sein, alles andere ist Nebensache. Ankunft an der Auronzohütte nachts um eins, Material sortieren, kochen, noch mal Topo lernen, aufstehen um vier, ich spüre die Energie. Ich brauche keinen Schlaf. Die Energie ist da, kommt aus dem, was vor uns liegt.
Die Nordwände, so beeindruckend im blassen Morgenlicht. Jedes Mal. Wir queren unter ihnen waagerecht hinein, ein Wanderpfad wie an einer Hauswand entlang. Um sechs sind wir am Einstieg der Direttissima. Ich werde anfangen. Einbinden. Knoten kontrollieren. Kletterschuhe an. Und dann … Direttissima!
Im senkrechten Labyrinth
Ein Schritt, und du wechselst in einer Sekunde von der vollkommen waagerechten Welt in eine vollkommen senkrechte. Für die nächsten zwölf Stunden. Was ein Einstieg. Die Route läuft im unteren Drittel querbeet durch die Wand, an Strukturen, die man von unten kaum erkennen kann, an Griffen und Tritten entlang einer Linie, die man nicht sehen kann, selbst erst finden muss.
Ein senkrechtes Labyrinth. Respekt an die Erstbegeher für ihre Spürnasen und den Mut, hier einzutauchen. Der erste Zwischenstopp sind die großen überhängenden Verschneidungen 200 Meter über und 50 Meter links von uns, surreal weit entfernt und doch stets in greifbarer Nähe. Dazwischen ein Meer mit Wellen aus gelbem Kalk.
Löcherpassagen und kleine, anstrengende Dächer wechseln sich mit filigraner und exponierter Leistenkletterei ab, hin und wieder ein kleinerer Quergang oder eine Genussschuppe. Sportklettern in der Nordwand der Zinne, wir finden unseren Rhythmus schnell.
Auf- und abklettern, links und manchmal auch rechts, Exen immer brav verlängern, Keile und Friends wo nötig, wir sind gut vorbereitet. Alles läuft nach Plan. Unterwegs eine Zeitreise durch die Geschichte des Normalhakens; alle Arten von Schrott und Rost, hin und wieder auch ein soliderer, und manchmal auch ein Bohrhaken für eine Dosis Standplatzwellness.
Die umgedrehte Riesentreppe
Nach dem bekannten und fotogenen Linksquergang auf die Verschneidungen zu erreichen wir den Ausgangspunkt für den zweiten, den schwersten Teil: die Überhänge. Drei Seillängen im achten Grad, 120 Meter lang, durchgehend überhängend, entlang der Unterseite einer umgedrehten Riesentreppe.
Los geht’s, die erste Seillänge hat 50 Meter, durchgehend VIII. Bin immer am Suchen, immer am Absichern und immer am Gucken, dass mir ja die Arme nicht zulaufen. 50 Meter in dem Grad sind ’ne Menge, ich bin eine ganze Weile unterwegs, immer fokussiert auf die nächsten zwei, drei Bewegungen. Als Stefan im Nachstieg folgt, brennen sich mir im Hängestand mit die schönsten Bilder meiner Kletterkarriere ins Hirn. Das ist, warum wir hier sind. Allein. Mittendrin. Exponiert.
Eindrücke von der Tour - klicken Sie sich durch unsere Slideshow! Stefan steigt die nächtse acht vor. Vom Stand weg geht’s direkt überhängend weiter. Von der letzen Länge noch ausgepumpt, laufen ihm nach den ersten fünf Metern die Arme zu. Ich kenne seinen Rhythmus genau, sehe, was kommt, checke unsere Situation;
Hängestand an unsymmetrisch abgebundenen Rostgurken, dann noch mal drei Rostgurken in der Länge und als Letztes – war ja klar – ein kleiner Klemmkeil. „Komm! Auf, bin dabei! – Aah, ich komm!“ – Und Abflug! Noch nie habe ich so weich gesichert. Am Ende hängt er auf meiner Höhe drei Meter neben mir pendelnd in der Luft. Der Keil hat gehalten. 300 Meter Luft unterm Bürzel …
Nach verordneter Pause und Griffe-Lesen steigt Stefan noch mal ein und bringt die Seillänge routiniert zu Ende. Da jetzt ich völlig ausgepumpt mit dem Nachsteigerrucksack am nächsten Stand ankomme, entscheiden wir uns, die Wechselführung in der letzten Verschneidungslänge bis zum Biwakplatz auszusetzen, um uns eine zweite Flugstunde zu ersparen.
Kaminstemmen
Die Ausgesetztheit in diesem Teil der Wand ist atemberaubend. Wir fühlen uns jetzt gut aufgehoben in dieser Wand, eine seltsame Mischung aus Exponiertheit und Schutz in der großen Verschneidung. Man sieht seinen Partner nach fünf, sechs Metern nicht mehr, vollkommene Stille, allein das lautlose Durchlaufen der Seile im Kletterrhythmus des Partners signalisiert das Fortkommen, das langsame Auftauchen aus dieser eigenartigen Umgebung.
Der dritte Teil nach dem Biwakplatz sind die berühmten Ausstiegskamine – oft nass, bei Wetterstürzen schnell vereist. Klingt gruselig. Allerdings nicht mehr so schwer, alles im sechsten Grad und „nur noch“ senkrecht. Das Selbstvertrauen aus dem gerade Geleisteten und unsere Erfahrung tragen uns nach oben. Homogenes, athletisches Verschneidungs- und Kaminstemmen, unsere Paradedisziplin.
Ich schaffe es mit 60 Metern gerade so auf das Ringband und finde mit der Seildehnung, die mir nochmals zwei Meter schenkt, einen kleinen Fingerriss, der den allerletzten Friend, den ich noch übrig habe, verschlingt. Willkommen! Nach einer Weile kommt Stefan nach. Wir haben’s geschafft.
Text und Fotos: Björn Ernst