Erika Dürr: "Wir werten unfassbar schnell"
Erika Dürr ist Autorin, Bloggerin, Podcasterin ... und unsere neue ALPIN-Kolumnistin! Im Wechselspiel mit unserem zweiten Neuzugang, David Göttler, dem Bergführer und einem der erfolgreichsten Höhenbergsteiger Deutschlands, besprechen die beiden aktuelle Themen des Bergsports. In der zweiten Ausgabe von "Ehrlich gesagt ..." beschäftigen sie sich mit dem Thema (Ver-)Urteilen am Berg.
Erika Dürr über (Ver-)Urteilen im Bergsport@(zwischenHeadlineTag)>
Ehrlich gesagt … gibt es wohl ein Gefühl, das viele von uns kleinhält. Uns von besonderen Unternehmungen abhält, vom spielerischen Ausprobieren neuer Dinge und vom authentischen Leben. Es ist die Angst, dass Dritte uns negativ beurteilen oder über uns tuscheln könnten. "Was denken denn da die anderen?" Kürzlich trug jemand in der Kletterhalle Socken in seinen Kletterschuhen. Klar, ein leises Raunen, ein schiefer Blick, ein Kommentar zum eigenen Seilpartner hinter vorgehaltener Hand.
Mag sein, dass ich zu alt oder zu jung bin, um mitbekommen zu haben, was genau daran so verstörend ist. Im Grunde macht es hygienetechnisch vermutlich sogar Sinn. Und selbst wenn nicht, ist das natürlich ein herrliches Beispiel für "Leben und leben lassen". Schließlich hat es nicht den Hauch einer Auswirkung auf andere. Außer eben, dass sie etwas zu tuscheln haben. Das mögen Menschen ja gerne: über andere reden.
Im Nachhinein feiere ich den Mann. Wahrscheinlich ist er fest genug in seinem Selbstbewusstsein, darüber nicht einmal nachgedacht zu haben. Vielleicht aber wusste er vom erwartbaren Raunen, hatte womöglich sogar Angst davor – und hat es dennoch getan. In dem Fall wäre mein Respekt für ihn noch viel größer. Wir werten unfassbar schnell. Dass jemand aus den falschen Gründen in die Berge ginge, so viel auf Social Media mache oder seltsame Klamotten trage.
Es wird geurteilt, gelästert und gemosert. Den meisten fällt dabei noch nicht einmal auf, dass sie – meist negativ – über andere Menschen sprechen. Und das, wo es eine hilfreiche Übung wäre, sich im Nicht-Werten zu üben. Im Annehmen von unseren Mitmenschen, so wie sie sind. Das wünschen wir uns doch selbst auch, nicht wahr?
Was wäre die Welt, wenn wir nicht in der Angst lebten, von anderen verurteilt zu werden? Wir alle würden mutig Dinge ausprobieren, Kreatives oder Unerwartetes schaffen und ganz sicher hätten viele sehr bald ein völlig neues Hobby, einen neuen Partner oder Klamotten, die ihnen selbst wirklich gefallen. Kritisch wird’s natürlich, wenn andere durch das eigene Tun negativ betroffen werden oder in Gefahr geraten. Dieser schmale Grat braucht besonderes Augenmerk.
Demgegenüber stehen in den meisten Leben unzählige Momente, in denen etwas nicht probiert wurde aus Angst, sich zu blamieren.Tatsächlich wäre es spannend, anderen einen Tag lang alles ins Gesicht zu sagen, was man über sie denkt. Wir würden schlagartig viel weniger werten und tuscheln und – besonders schöner Nebeneffekt – viel öfter Positives denken und es aussprechen. Ist es nicht genau das, was wir uns selbst oft wünschten? Es wäre eine schöne neue Welt!
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