Tourenbuch

Hochtour: Piz Palü

Die Schatten werden länger, die Farben wärmer, der Magen freut sich langsam auf das Nachtessen. Wer um diese Zeit noch hier oben weilt, hat morgen Großes vor. Zumeist 3900 Meter Großes. So hoch ist der Piz Palü, unser Gegenüber. Piz Palü klingt gut. Bedeutet übrigens Sumpfgipfel.

Hochtour: Piz Palü
Bequem erreichabre Herberge für alle Palü-Aspiranten: das Berghaus Diavolezza.
Bequem erreichabre Herberge für alle Palü-Aspiranten: das Berghaus Diavolezza.

Auch die übrigen Namen, die die Aussicht bevölkern, klingen gut. Bellavista, die schöne Aussicht. Fortezza, die Festung. Crast'Agüzza, der spitze Grat. Cambrena, keine Ahnung. Rifugi dals Chamuotschs, die Zuflucht der Gämsen. Isla Persa, die verlorene Insel.

Oder Diavolezza, Die Teuflische. Erinnert uns an "Die weiße Hölle vom Piz Palü", ein berühmter Spielfilm aus dem Jahr 1929, mit Leni Riefenstahl in einer Hauptrolle. Dabei ist das Panorama, das sich vor uns ausbreitet, alles andere als ein Inferno: weit offen, lieblich, sonnendurchflutet.

Man könnte fast von einem "Festsaal der Alpen" sprechen, wäre der Ausdruck nicht von einem Nazi erfunden worden. Auch die aktuellen Verhältnisse verheißen eher Paradiesisches denn Satanisches: kein Blankeis, die Spalten gut zugedeckt, die Felsen trocken, die Wettervorhersage unzweideutig gut.

Das Einzige, was uns zustoßen könnte, wäre ein Durchschnarcher im Massenlager, aber das wäre höchstens ein laues Fegefeuer. Also genießen wir unbekümmert die Szenerie. Der Palü sitzt breit da, fläzt auf seinem Sockel aus Persgletscher. Alles an diesem Berg ist ruhig, harmonisch, kraftvoll. Die Abendsonne lässt die drei Rippen schön hervortreten, über die ebenso schöne Routen führen.

Wer nach der letzten Gondel am Berghaus sitzt, hat andertags Großes vor.
Wer nach der letzten Gondel am Berghaus sitzt, hat andertags Großes vor.

Im deutschsprachigen Raum heißen sie, von links nach rechts, Östlicher Nordwandpfeiler, Mittlerer Nordwandpfeiler und Westlicher Nordwandpfeiler, im italienischsprachigen - nach ihren Erstbegehern - La Kuffner, La Bumiller, La Zippert. Wir entscheiden uns gegen die deutschen Bezeichnungen und für die Kuffner, die einfachste der drei. Wie sie denn so sei, fragt Alberto. Ich weiß es nicht mehr, das letzte Mal ist auch fast 20 Jahre her. Dann wird zum Abendessen gerufen. Zur Fotogalerie Tourenbuch Piz Palü Die Flasche Veltliner ist nicht nur ein Volltreffer, sie hilft uns später auch über die Schnarcher hinweg. Aber um halb vier ist fertig schlafen. Alles eilt zum Frühstück, aufs Klo, in die Sitzgurte und Steigeisen, in die Handschuhe und nach draußen. Wobei nicht alle die richtige Reihenfolge erwischen und erst abmarschbereit verschnürt merken, dass da unbedingt noch die Blase wäre.

Für nicht wenige ist der Palü die erste große Hochtour. Da wir uns für die linke Rippe entschieden haben, verlassen wir nach einer guten halben Stunde die eher geräuschvolle Normalroute und halten nach rechts, um zum Pfeilerfuß zu gelangen. Der Einstieg ist nicht zu verfehlen: Mehrere Seilschaften machen sich schon bereit, einige steigen ein und lassen Steine hinunterkollern, andere rufen sich Kommandos zu oder blenden sich gegenseitig mit den Stirnlampen.

Ein reiner Hochgenuss: die felsigen Seillängen entlang der Pfeilerkante.
Ein reiner Hochgenuss: die felsigen Seillängen entlang der Pfeilerkante.

Ein Bergführer brüllt auf Italienisch seine verängstigte und umkehrwillige Kundin an, bis sie zu heulen beginnt. Offensichtlich liegt ihm an der Tour mehr als (an) ihr. Das bunte Völklein, das heute dem Palü an die Rippe will, zählt knapp zwei Handvoll Seilschaften.

Der erste Kontakt mit dem Berg ist alles andere als einladend: Es gilt, die Seitenwand des Kamms zu erklettern. Keine großen technischen Schwierigkeiten, aber wenig Sicherungsmöglichkeiten, klamme Glieder und lose auf den Bändern herumliegende Steine sorgen da und dort für lange Gesichter.

Doch sobald die Gratschneide erreicht ist, entpuppt sich der Sporn als solide Werkmannsarbeit - kompakter, nicht allzu steiler Granit, an den entscheidenden Stellen mit einem Haken oder einem Friend-freundlichen Riss ausgestattet, und ab und zu sogar mit einer Überholspur versehen, damit sich die Stand-zu-Stand-Sicherer und die Gleichzeitig- Gehenden nicht allzu stark in die Quere kommen. Zur Fotogalerie Tourenbuch Piz Palü Mit der Zeit verteilen sich die Seilschaften über den ganzen Grat, und nach einer Stunde ist weit und breit kein Mensch mehr auszumachen. Die Kletterei ist eher lustig denn listig, kurze Aufschwünge wechseln immer wieder ab mit Gehgelände. Besonders famos ist aber die Umgebung: Links und rechts der Rippe steile, zerrissene Hängegletscher, Eistürme, die manchmal auch kollabieren und kleine Lawinen auslösen. Hochgebirge pur. So schön kann Bergsteigen sein. Ob die Italienerin immer noch heult?

Nebst den bereits steckenden Haken hat die ganze Kletterei noch einen: Sie ist allzu früh vorbei. Irgendwann, und so ziemlich unvermittelt, hört der Sporn auf - und geht in eine Schneerippe über, die zwar keine 45 Grad steil, aber schmal geschnitten und etwas ausgesetzt geraten ist.

Der krönende Abschluss am schnittigen Firngrat.
Der krönende Abschluss am schnittigen Firngrat.

Bei Blankeis stellt sie nicht selten die psychologische Schlüsselstelle dar; heute aber gibt sie sich in bestem Trittschnee, aus dem wir mit unseren Tritten eine Leiter stapfen, die geradewegs zum Himmel zu führen scheint. Was nicht ganz ohne Keuchen geht, denn die Höhe macht sich nicht nur bezüglich Aussicht bemerkbar.

Dann, nach zwei Stunden Anmarsch in der Dunkelheit und drei guten Stunden mit einer Wand vor der Nase, weitet sich plötzlich ein lichtdurchflutetes Gipfelplateau. Ganz allein sind wir nun nicht mehr, die Leute von der Normalroute sind schon da. Es herrscht ein Kommen und Gehen. Nach einer ausgedehnten Gipfelrast schließen wir uns dem Gehen an und folgen dem Grat zum Mittel-, dann zum Westgipfel. Zur Fotogalerie Tourenbuch Piz Palü Hier sind die Ausweichstellen zuweilen etwas schmal gebaut, besonders zwischen Piz Spinas und Fuorcla Bellavista - sowie auf dem Abstieg über die Fortezza, wo sich ein Rückstau bildet. Das soll auch am Everest nicht anders sein. Mit dem Unterschied, dass man sich die Warterei hier mit Plauderei verkürzen, manchmal gar versüßen kann.

Dann löst sich der Pfropfen, alles geht wieder zügiger, und bald sitzen wir an einem Tisch vor der Bovalhütte, nippen am Bierglas und langen von Zeit zu Zeit in die Kartoffel-Chips-Tüte. Wie hieß schon wieder das Gegenteil von Hölle?

Text und Fotos: Marco Volken