Auf den Höchsten der Silvretta

Hochtour auf den Piz Linard

An der Grenze zwischen Unter- und Oberengadin steht der Piz Linard. Er ist der höchste Gipfel der Silvretta – und eine Felspyramide von bezaubernder Eleganz. Hier findet ihr alle Infos zur Tour!

Hochtour auf den Piz Linard
© IMAGO / Ex-Press

Der höchste Silvrettagipfel ist zugleich einer der formschönsten der Gebirgsgruppe. Seine alleinstehende, vierkantige Felspyramide ist weit nach Süden – dem Unterengadin entgegen – vorgeschoben. Der Piz Linard überragt den Talboden um 2000 Meter. Die anspruchsvollsten Routen führen über seine Grate und Wände, der hier vorgestellte Normalweg über seine Südflanke zum Gipfel.

Piz Linard: Sex sells!

Schokobraune Bikinischönheiten räkeln sich in der Wintersonne. Sex sells! Das war in den Siebziger- und Achtzigerjahren nicht anders als heute. Und so machten die Plakate eines Sonnencremeherstellers nicht nur sein Produkt bekannt, sondern auch noch den Piz Buin zum mit Abstand berühmtesten Berg der Silvretta. Wie sonst wäre es zu erklären, dass der gerade einmal dritthöchste Silvrettagipfel von Heerscharen an Alpinisten besucht wird, während der Kulminationspunkt zwischen Paznaun- und Inntal, der Piz Linard, im wahrsten Sinne des Wortes links liegen gelassen wird?

An seiner Figur kann es jedenfalls nicht liegen. Liebhaber von eher spitzen als runden Formen legen, von St. Moritz kommend, kurz vor Susch eine Vollbremsung hin. Urplötzlich ragt da diese gewaltige, makellose Pyramide in den Himmel, um die selbst Cheops die Eidgenossen beneidet hätte. Hinzu kommt eine ordentliche Vertikaldistanz: Vom Gipfel zum Talboden sind es zwei Kilometer. Einschlägige Internetforen mit Beschreibungen der 50 Grad steilen, schneegefüllten Weilenmann-Rinne oder Warnungen vor extremer Steinschlaggefahr dürften den Ansturm zum Piz Linard zusätzlich eindämmen.

Mich jedenfalls machten diese Interneteinträge genauso neugierig wie die Aussage, dass die Bewirtung der Chamonna Linard von den Sektionsmitgliedern laut SAC-Website in "Fronarbeit geleistet wird". Es ist immer ein seltsames Gefühl mit Pickel, Steigeisen und Steinschlaghelm über idyllische Wanderwege zu laufen. Auf dem herrlichen Anstieg vom kleinen Engadiner Dorf Lavin über die mit Lärchen bewachsenen Hänge der Silvretta-Südseite zur Chamonna Linard stelle ich mir mehr als einmal die Frage, ob diese Hochtouren- Montur wirklich notwendig ist.

Ordentlich verschwitzt erreiche ich die urige Hütte, wo mich eine drahtige Mittvierzigerin lächelnd fragt, ob es o.k. wäre, wenn es in einer halben Stunde gemeinsames Abendessen gäbe. Wie eine vom Schweizer Alpenclub ausgebeutete Zwangsarbeiterin schaut die Frau jedenfalls nicht aus. Bei Rösti mit Spiegelei platzen meine Vorbe- halte gegen die Fronarbeit wie eine Seifenblase: Mit diesem Begriff bezeichnen die Schweizer nichts anders als freiwillige Arbeit.

<p>Die Chamonna Linard (rätoromanisch im Idiom Vallader für Linardhütte) ist eine Berghütte des Schweizer Alpen-Clubs</p>

Die Chamonna Linard (rätoromanisch im Idiom Vallader für Linardhütte) ist eine Berghütte des Schweizer Alpen-Clubs

© Giovanni Rovedatti/wikimedia.org

Da die kleine Hütte für einen hauptberuflichen Pächter nicht rentabel wäre, muss man den engagierten Vereinsbergsteigern dankbar sein, dass man in der Sommersaison ein warmes Essen serviert bekommt. Einheimische Spezialitäten sind dabei so gut wie garantiert. Während des Abendessens, bei dem wir trotz einer hervorragenden Wettervorhersage gerade einmal zu viert sind, lerne ich zwei nette Tirolerinnen und Joachim kennen, mit dem ich zwei Gemeinsamkeiten teile: Erstens ist auch er alleine unterwegs und zweitens zweifelt er genau wie ich an der Notwendigkeit seiner Eisgeräte für diese Tour.

Über Brösel, Schutt & Klettereinlagen zum Piz Linard

Bald sind wir uns einig: Morgen früh geht’s zusammen zum Linard. Und wer seine Ausrüstung bis zur Hütte schleppt, der schafft das auch bis zum Gipfel! Einmal noch fällt an diesem Abend die schwere Holztür ins Schloss. Ein Bergführer und sein Klient treten ein und die Schar der morgigen Linard-Aspiranten ist komplett. Bei gerade einmal sechs Bergsteigern wird Steinschlag morgen wohl nicht zum Problem. Ein gutes Gefühl, wenn man sich mit erwartungsvoller bis leicht angespannter Vorfreude in den Hüttenschlafsack kuschelt.

Die Sterne funkeln noch, als Joachim und ich in der anbrechenden Dämmerung die Hüttenterrasse verlassen. Unser Gehtempo stellt sich als dritte Gemeinsamkeit heraus. Als wären wir seit Jahren zusammen im Gebirge unterwegs, gewinnen wir schnell an Höhe und stehen nach nicht mal 90 Minuten am Beginn der eigentlichen Schwierigkeiten, die sich in Form einer ungemütlichen Schuttrinne präsentieren. Das Ding ist genauso bröselig und anstrengend zu ersteigen, wie es von unten ausschaut. Dafür erweist sich der anschließende Felsaufschwung als leichte Klettereinlage.

<p>Durch karge Landschaft geht es hinauf zum eindrucksvollen Gipfel. </p>

Durch karge Landschaft geht es hinauf zum eindrucksvollen Gipfel. 

© IMAGO / Ex-Press

Auch ein riesiger Geröllhang ist erstaunlich angenehm zu gehen. Mit jeder Wegbiegung wächst die Spannung, was uns in der steilen Weilenmann-Rinne erwartet. Keine fünf Minuten später wissen wir: Hier liegt weder Schnee, noch ist die Rinne 50 Grad steil. Das beste aber ist: Man kann ihrem Geröll elegant aus dem Weg klettern. Auf einer erstaunlich festen Felsrippe kraxelnd, genießen wir nette Einser- und Zweier-Stellen. Auf lockere Steine achten wir trotzdem. Schließlich befindet sich irgendwo unter uns das rot-weiß-rote Damenteam.

Gipfelschau über die Albulaalpen bis zum Biancograt

An zwei Stellen kommen wir der Geröllrinne dann doch nicht ganz aus. Aber alles in allem scheint die Steinschlagwarnung bei vernünftig gewähltem Anstieg leicht übertrieben zu sein. Am Gipfelrücken angekommen, gestehen wir der Weilenmannrinne allenfalls 45 Grad zu und bewerten die erwähnte Internetbeschreibung mit Note "mangelhaft".

Einen Fünfer bekommt leider auch die Aussicht. Kurz vor dem Gipfel tauchen wir in eine dicke Nebelsuppe. Auf exakt 3410 Metern frage ich mich, ob Joachim genauso viel Sitzfleisch haben wird wie ich. Die Hoffnung auf den viel gerühmten Ausblick stirbt bei mir zuletzt … und wird auch nicht von Joachim begraben. Wir vertreiben uns die Wartezeit mit dem Austauschen großartiger Bergerlebnisse und werden nach einer exakten Fußballhalbzeit tatsächlich belohnt.

<p>Auch im Winter ist der Piz Linard ein echter Hingucker.</p>

Auch im Winter ist der Piz Linard ein echter Hingucker.

© IMAGO / Zoonar

Die beiden Tirolerinnen treten aus dem Nebel, der urplötzlich vor ihnen in die Knie zu gehen scheint. Zentimeter um Zentimeter senkt sich das weiße Meer und gibt endlich die umliegenden Silvrettagipfel, die Albulaalpen mit dem unverwechselbaren Piz Kesch, vor allem aber die vergletscherte Berninagruppe mit dem messerscharfen Biancograt frei. Diese großartige Aussicht wird aber noch von der Tatsache übertroffen, dass an diesem wunderschönen Tag im Ferienmonat August zusammen mit den zwei Schweizern gerade einmal sechs Menschen auf dem Piz Linard stehen. Beim Prosit auf der Hütte wissen wir, dass es bei dieser Anzahl bleibt!

Nachtrag: Zu Hause klärt das Internet dann doch noch die Frage nach der Rinnensteilheit: In einem nagelneuen Eintrag eines nach eigenen Angaben einheimischen Engadiners lese ich im September: "Dieses obere Couloir wird fälschlicherweise (!) oft als Weilenmann-Rinne bezeichnet. Diese befindet sich jedoch westlicher und verläuft ab der Fuorcla da Glims parallel etwas rechts des Südwestgrates." Die Qualität von Interneteinträgen ist eben so unterschiedlich wie die des Gesteins am Piz Linard.

Toureninfos zum Piz Linard (3.410 m)

Vom Lärchenwald über ein Hochtal bis zum anstrengenden Geröllkar und leichter Kletterei bietet der höchste Silvrettagipfel alles, was das Bergsteigen so schön macht! Abwechslungsreiche Bergtour, für die vor allem gute Kondition und Trittsicherheit erforderlich sind.

  • Schwierigkeit: Bergtour, schwer

  • Gesamtzeit: 10 Std.

  • Höhenmeter: 2000 Hm

  • Talort: Lavin, 1.432 m.

  • Stützpunkt: Chamonna Linard, 2.327 m. Die sowohl wunderschön gelegene als auch wunderschön gestaltete kleine Bergunterkunft wird ehrenamtlich von Mitgliedern der SAC-Sektion Engiadina Bassa bewartet, was eine sehr freundliche und familiäre Atmosphäre mit sich bringt. Durchgehend von Anfang Juli bis Mitte September geöffnet, ab Mitte Juni und bis Mitte Oktober an Wochenenden.

  • Route: Von der Hütte immer dem Bach folgend durch das Hochtal zum Bergsee Lai da Glims. Indem man kurz danach einem runden Moränenrücken, der zwischen zwei weiteren kleinen Seen liegt, geradeaus auf den Piz Linard zu folgt, verlässt man den markierten Wanderweg. Den Steinmännern folgend leicht ansteigend nach Westen an den Beginn einer breiten Schotterrinne. Im Anstieg ist es zu empfehlen, über die rechts angrenzenden Felsfl anken aufzusteigen. Später orientiert man sich nach rechts und folgt einem Band. Hinter einem Absatz erreicht man über eine kurze Kletterstelle ein großes Geröllfeld. Durch dieses in Serpentinen hinauf, dann rechts zum Beginn der sogenannten "Schneeruß". Ist diese noch voll mit Schnee, dann hängt es von den Verhältnissen ab, ob man Pickel und Steigeisen braucht oder in idealem Stapfschnee mit Bergschuhen weitersteigt. Wenn die Rinne aper ist, sollte man der rechten Felsrippe folgen. Man steigt dann wieder in der Rinne und nochmals rechts davon bergan. Die Rinne mündet in einen breiten Gipfelhang, Steigspuren zum höchsten Punkt.

  • Varianten: Südwestgrat (II), Südostgrat (III).

  • ALPIN-Tipp: Ob Pickel und Steigeisen sinnvoll sind, ist von der Schneelage im Frühsommer abhängig. Am besten erkundigt man sich telefonisch auf der Hütte. Sind die zwei Rinnen schneefrei, sollte man am Rande der Rinnen auf- und absteigen. So wird man kaum Steinschlagprobleme haben bzw. verursachen.

<p>Liebliche Silvretta: Der Vermuntsee.</p>

Liebliche Silvretta: Der Vermuntsee.

© IMAGO / blickwinkel

Infos zu Bergführer, bester Jahreszeit & Literatur

  • AnfahrtAuto: über die A 13 aus Deutschland über Lindau – Bregenz nach Landquart und via Autoverladung Vereinatunnel nach Lavin (www.vereina.ch). Aus Österreich und Bayern über den Fernpass oder über Innsbruck und durch das Inntal nach Lavin. Bahn: Von allen größeren Schweizer Städten und von Deutschland über Lindau Bahnverbindungen nach Landquart. Ab hier stündlich Anschlüsse mit der Rhätischen Bahn durch den Vereinatunnel nach Lavin.

  • Info: Engadin Scuol Tourismu, scuol.ch

  • Bergführer: Montafon Bergführer, montafon-bergfuehrer.at

  • Karte: Bundesamt für Landestopografie, 1: 25 000, Blatt 1198,Silvretta.

  • Literatur: Günther Flaig: Alpenvereinsfüherer Silvretta alpin, Bergverlag Rother, 2005.

  • Beste Zeit: Anfang Juli bis Mitte September.

Text von Michael Pröttel

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