ALPIN: Beat Kammerlander, was motiviert Dich, sich immer wieder der Gefahr von Free-Solo-Klettereien in den schwierigsten Felsen auszusetzen?
Beat Kammerlander: Ohne Klettern wäre ich todunglücklich. Das ist mein sinnloses Leben, denn Bergsteigen ist ja an sich etwas Sinnloses. Es bringt ja nichts, nur deine persönliche Befriedigung. Dazu stehe ich.
Gerlinde Kaltenbrunner: So sinnlos ist es auch wieder nicht. Wenn ich zufrieden bin, dann bringt es auch meinem Umfeld etwas.
Ueli Steck: Dann müsste man das ganze Leben als sinnlos bezeichnen.
Kammerlander: Ihr habt natürlich recht. Ein Philosoph sagte einst: Und alles, was die Menschen taten, ist nichts anderes, als den Tod verscheuchen.
Kaltenbrunner: Es steckt in mir drin. Es erfüllt mich, da lebe ich auf, da kann ich alles hinter mir lassen.
Kammerlander: Es ist einfach eine große Lust. Ich sehe eine Wand und denke, wow, die möchte ich einmal klettern. Die Route Mordillo am Voralpsee beispielsweise war eine Geschichte über mehrere Jahre. Ich wusste, dass ich das ohne Seil bewältigen kann. Und wenn du die Wand bezwungen hast, wird es abstrakt. Du kannst dir gar nicht mehr vorstellen, dass es möglich war.
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ALPIN: Aber Du bist ja auch nicht mehr der Jüngste. Geht es leistungsmäßig noch weiter bei Dir?
Kammerlander: Ich spüre den Meniskus, dann tut die Schulter weh, es zwickt überall. (lacht). Man begibt sich in einen Ausnahmezustand, in dem eine unglaubliche Power, ein Wille und eine Klarheit entsteht. Es ist eine Gratwanderung, eine Leidenschaft mit einem unglaublichen Suchtpotential. Das kannst du nicht auf die Dauer machen. Irgendwann muss man ins normale Leben zurückgehen.
ALPIN: Wie groß ist der Druck in der Zeit zwischen Idee und tatsächlicher Aktion?
Kammerlander: Man kann es nicht erzwingen. Es muss sich ein Gefühl einstellen. Ich weiß, dass ich diese Belastung aushalten kann. In der Phase der Aktion wirst du dann zu einer Art gewaltlosem Krieger.
Kaltenbrunner: Außenstehende, die nichts damit zu tun haben, sehen nur die ganz große Gefahr. Wenn noch Situationen wie jene am K2 vor zwei Jahren hinzukommen, als ich weitergehe und Ralf umkehrt, dann heißt es sofort, ich sei harakirimäßig unterwegs. Für mich hat das damals noch gepasst. (Ralf Djumovits, ihr Ehemann und häufiger Begleiter)
Steck: Wir können beide die gleiche Bergtour machen und das Risiko anders einschätzen. Es kommt auch auf die momentane mentale Verfassung an, auf die Tagesform. Da spielen viele Faktoren mit.
Kammerlander: Ganz wichtig scheint mir auch, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Bei mir geht das über den Instinkt. Wenn ich mich nicht wohl fühle, kann ich eine solche Aktion nicht starten.
ALPIN: Den Beweis, dass ihr vorsichtig seid, habt ihr mehrfach abgeliefert. Sonst wärt ihr nicht mehr hier. Trotzdem: Höhenbergsteigen ist objektiv gesehen wohl die gefährlichste Variante im Bergsport ...
Steck: Das glaube ich nicht.
Kaltenbrunner: Das sehe ich auch anders.
ALPIN: Wenn man auf die letzten zwei Jahrzehnte im Höhenbergsteigen zurückblickt stellt man fest, dass links und rechts die Kameraden sterben.
Kammerlander: Aber es leben auch noch ganz viele.
Kaltenbrunner: Wenn man genau hinschaut, warum einer nicht zurückgekommen ist, sind es fast immer individuelle Fehler. Sie sind über ihre Grenzen gegangen oder haben zuwenig getrunken.
Steck: Das saugefährliche beim Höhenbergsteigen ist auch folgendes. Du kannst als mittelmäßiger Alpinist in die Höhe steigen und merkst erst viel später, dass du an sich überfordert bist. Beim free solo gehst du hin und merkst vom ersten Meter an, dass es zu schwierig ist.
Abgefrorene Finger als Trophäen?
ALPIN: Habt ihr wirklich alles so gut im Griff wie sich das jetzt anhört?
Kaltenbrunner: Bei der Beurteilung des Risikos machen immer bessere Wettervorhersagen vieles einfacher. Letztes Jahr konnten wir auf 8300 ein Biwak machen, weil wir wussten, dass das gute Wetter auch am Tag danach hält. Wenn wir das nicht gewusst hätten, wären wir dieses Risiko nicht eingegangen. (Schaut zu Steck und lacht.) Ich weiß, du biwakierst bei deinen Touren nicht so häufig.
Steck: Genau, ich bin ein Weichei. Aber es ist schon so. Wenn ich die Geschichte beim Iniaki anschaue. Die hatten denselben Wetterbericht und sind in die Wand eingestiegen. Für uns war es zu gefährlich. Risiko und Gefahr werden immer individuell interpretiert. (Beim Versuch, 2008 die Annapurna über die Südseite zu besteigen, kam der spanische Alpinist Iniaki Ochoa ums Leben. Nach einem gescheiterten Gipfelversuch schaffte er es noch zu seinem vierten Hochlager auf etwa 7400 m Höhe zurück, wo er jedoch kollabierte. Der Notruf erreichte Ueli Steck und Simon Anthamatten, die sich ebenfalls an der Annapurna-Südwand. Ein internationales Rettungsteam machten sich mit Medikamenten auf den Weg, aber nur Steck konnte Ochoa nach zwei Tagen erreichen. Für Ochoa kam jede Hilfe zu spät. Er verstarb im Beisein von Steck )
Kaltenbrunner: Am Lohtse hatten wir 2009 die gleiche Situation. Der Wetterbericht war schlecht und es gab viel Neuschnee. Eine Gruppe aus Kasachstan wollte trotzdem starten. Wir haben ihnen im Basislager noch gesagt, dass es schlechtes Wetter gibt und viel Neuschnee. Einer sagte nur: ‚We don't mind about the weather'...
Steck: ...Genau, die finden das noch cool...
Kaltenbrunner: ...In der Lohtse-Flanke ist eine Lawine niedergegangen und jener, der sich nicht um das Wetter gekümmert hat, ist ums Leben gekommen. Das waren fitte und erfahrene Höhenalpinisten aber auch diese haben gewisse Regeln zu beachten.
Steck: Ich habe viele Leute am Everest gesehen, die ihre abgefrorenen Finger wie Trophäen behandelt haben.
ALPIN: Bleiben wir auf eurem Niveau und nicht auf jenem irgendwelcher Manager, für die der Everest zum Statussymbol geworden ist. Wie geht ihr mit den Unsicherheiten, allenfalls mit der Angst im Berg und Felsen um?
Kaltenbrunner: Beim mir ist es so, dass ich in dem Moment, wo ich unterwegs bin, die Angst ausschalte. Das heißt nicht, dass ich immer wieder nachdenke, ob das Risiko kalkulierbar ist, das ich eingehe.
Kammerlander: In der Aktion kommt und geht die Angst, wie eine innere Uhr. Das Timing ist wichtig. Bin ich zuversichtlich, dann kann ich starten. Dann kann sich eine Angst aufbauen und du schaust, dass du sie in einer guten Rastposition wieder abklingen lässt. Ich glaube, dass ich einen differenzierteren Umgang mit dieser Angst habe, weil ich schon lange solche gefährlichen Sachen mache. Grundsätzlich habe ich aber panische Angst, wenn ich irgendwo stehe und es kommt ein Steinschlag daher. Das ist eine Angst, die schnürt mir die Kehle zu.
ALPIN: Und wenn du in der Wand bist und die Angst nicht mehr abklingt?
Kammerlander: Es bleibt dir nichts anderes übrig, als die Nerven zu bewahren, sonst hast du verloren.
ALPIN: Angst, Lust, Leidenschaft, Freude an der Natur - aber es ist auch euer Beruf.
Kammerlander: Das hat eben in diesem Punkt nichts zu tun damit, ob wir Geld verdienen oder nicht. Das ist absolute Nebensache. Das ist in dem Moment so wie bei einem Künstler, der erzählt, wenn er ein Bild nicht zu Ende bringt, dann stirbt er.
> ALPIN: Könnte das auch eine Generationenfrage sein. Bei dir steht die Leidenschaft im Vordergrund, bei den jüngeren jedoch der Verdienst.
Kaltenbrunner: Als ich begonnen habe, da war das Geldverdienen keine Idee. Es hat sich glücklicherweise so entwickelt, dass ich nun davon leben kann. Aber auch wenn es nicht geklappt hätte, würde ich es wahrscheinlich mit der gleichen Intensität betreiben. Ich würde mir nie einen Berg aussuchen, nur weil ich hoffe, den gut vermarkten zu können.
ALPIN: Das ist eher schwer zu glauben.
Kaltenbrunner: Ich weiss, das glauben mir viele nicht. Es ist mir inzwischen aber egal.
Steck: Du gehst nicht in eine hochschwierige Route ohne Seil, nur weil du ein bisschen Geld damit verdienen kannst.
Kaltenbrunner: Wenn du das nicht wirklich willst, dann machst du das nicht so lange, ganz sicher nicht.
Steck: Vordergründig mag es nach reinem Geldverdienen aussehen. Aber am Anfang ist die Idee und die willst du realisieren. Er später merkst du, dass es möglicherweise vermarktbar ist. Aber in erster Linie gehst du bergsteigen oder klettern.
Kammerlander: Ich finde es auch nicht schlecht, damit Geld zu verdienen. Ich brauche Geld, damit ich gewisse Projekte überhaupt realisieren kann. Aber die Route würde ich sowieso machen.
"Drecksprojekt werden als etwas Einzigartiges verkauft"
ALPIN: Bei vielen Elitealpinisten entsteht trotzdem der Eindruck, dass sie häufig jene Projekte wählen, die sie auch gut vermarkten können.
Kammerlander: Ja, klar. Alle Geschichten, die am Eiger gemacht werden sind interessant, weil es eben der Eiger ist. Obwohl der Fels dort zum Teil Scheisse ist.
ALPIN: Sind es die Sponsoren, die gewisse Geschichten pushen?
Kammerlander: Es ist eher umgekehrt. Wenn du als Kletterer zu wenig gut bist, musst du eine Marktlücke finden. Dann suchst du irgendein Drecksprojekt, das alpinistisch nichts wert ist und verkaufst es nachher als etwas Einzigartiges. Das ist für mich absolut niederwertig, ein Ausverkauf. Wir wissen auch, welche Leute das sind...
ALPIN: Nein, das wissen wir nicht...
Kammerlander: Namen werden eh keine genannt... Aber manchmal stösst es mir wirklich hoch, wenn es nicht vom Herzen kommt, wenn es keine Motivationsgeschichte ist sondern nur ein aufgesetzter Dreck.
Steck: Es gibt auch viele, die abdriften. Die waren einst Spitze und irgendwann verkaufen sie nur noch jene Geschichten, mit denen sich gut Geld verdienen lässt.
Kammerlander: Es gibt auch eine Inflation in den Schwierigkeitsgraden. Kletter-Touren werden in letzter Zeit alle aufgewertet, damit es in den Medien interessanter tönt. Die ersten 8c+-Routen werden heute eher als 9a gehandelt. Beim Mixed-Klettern sind wir inzwischen beim 13. Grad angelangt. Das ist ein Wahnsinn.
ALPIN: Quote, Rekord, überbieten der eigenen Leistung - das sind die Mechanismen des Marktes.
Kammerlander: Das mag sein. Aber bei den Schwierigkeitsgraden ist es so, dass der erste einen Vorschlag macht und die Wiederholer bestätigen oder korrigieren diesen. Jene, die sich nur verkaufen wollen, spucken irgendeinen höheren Schwierigkeitsgrad aus und haben eine große Schlagzeile. Zwei Jahre später wird das nach unten korrigiert und es kümmert sich keine Sau darum. Das schlimme daran ist, dass wir zu lieb miteinander umgehen. Eigentlich müssten wir solche Geschichten korrigieren.
ALPIN: Sind diese Diskussionen auch im Höhenbergsteigen bekannt?
Kaltenbrunner: Schwierigkeitsgrade haben wir im Höhenbergsteigen nicht. Du kannst die gleichen Routen machen und es ist jedes Mal sind die Verhältnisse komplett anders. Insofern kann man das nicht vergleichen.
Kammerlander: Aber wie viele machen dann die wirklich brutalen Geschichten im Himalaya?
Kaltenbrunner: Nur ganz wenige. Die meisten gehen auf den normalen Wegen. Bei euch ist es halt so, dass die wirklich schweren Routen nur die Vollprofis bewältigen können. Andere kommen gar nicht weg vom Boden. Beim Höhenbergsteigen ist es anders. Da profitieren halt ganz viele von den Fixseilen, die ihm Vorfeld angebracht werden.