Die berühmteste Wand der Welt hat wieder einmal ein Jubiläum. Vor 75 Jahren wurde die Eiger-Nordwand erstmals durchstiegen. Artikel und Bücher über das Geschehen in der "vertikalen Arena" türmen sich inzwischen fast eigerhoch.
Was gibt es, was noch nicht über die Eiger- Nordwand geschrieben wurde? Toni Kurz' verzweifeltes "Ich kann nicht mehr!", mit dem der Berchtesgadener Bergsteiger 1936 in Reichweite der Schweizer Rettungsmannschaft starb, begründete den Nimbus der Eiger-Nordwand.
Ein Jahr zuvor waren bereits die Münchner Max Sedlmayr und Karl Mehringer nach einem Wettersturz in der Wand geblieben - nicht wie die Seilschaft von 1936 unterwegs auf der späteren Heckmair-Route, sondern auf einer futuristischen Direktroute.
Nach der Erstdurchsteigung durch Anderl Heckmair & Co. und den ersten Wiederholungen nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich der Rummel um den Eiger etwas gelegt zu haben. Doch etliche Unglücksfälle in den 1950er- und 1960er-Jahren, wie etwa das Drama um den Italiener Claudio Corti, zementierten den schaurigen Mythos.
Den meisten Bergsteigern reichte es, die klassische Heckmair-Route zu begehen, nach dem Motto: Einmal und nie wieder. Als Alpinismus vor 50 Jahren begann, von den Geschehnissen am Eiger zu berichten, wandelte sich der Blick.
"Es gab um uns herum eine unglaubliche Menge unbekletterten Fels", schrieb der Schotte Dougal Haston nach einer Begehung der Erstdurchsteigerroute. Seilschaften hatten bereits versucht, den Weg mit einem direkten Aufstieg vom Bügeleisen zur Spinne zu begradigen; andere hatten die Route von Sedlmayr und Mehringer probiert.
Haston war es dann auch, der im Winter gemeinsam mit den Deutschen Sigi Hupfauer, Jörg Lehne, Günther Strobel und Roland Votteler 1966 die "John-Harlin-Route" vollendete - nachdem ihr Initiator und Namensgeber zuvor durch den Riss eines Fixseiles tödlich abgestürzt war.
"Ein Romanautor hätte keine bessere Geschichte schreiben können", meinte sein Sohn John Harlin drei Jahrzehnte später. Alpinismus-Chefredakteur Toni Hiebeler hielt diese Winter- Direttissima für unwiederholbar, weil sie durch die Hauptsteinschlagzone der Wand führte, und gab im Mai-Heft 1966 die Devise aus: "Die ideale Direttissima wartet noch immer auf ihre Bezwinger."
So riet Hiebeler drei Jahre darauf einer japanischen Bergsteigergruppe dann auch von ihrer geplanten Wiederholung der Harlin- Route ab und schlug ihnen stattdessen eine "Sommer-Direttissima" durch den wenig gegliederten Wandbereich weiter rechts vor. Einen Monat lang arbeiteten die sechs Japaner, unter ihnen die 27-jährige Ärztin Michiko Imai, im Expeditionsstil an ihrer Neuroute.
Mit 150 Bohrhaken nagelten sie sich durch die senkrechte bis überhängende Rote Fluh - eine "Nordwand der Westlichen Zinne in der Eigerwand". Ein Lagerplatz im Zweiten Eisfeld wurde zur Basis für die gewaltige Gipfelwand.
Kletterei im IV. bis VI. Grad, dazu technische Passagen bis A2, zum Abschluss ein massiger Felspfeiler - die "Sphinx" - mit Seillängen bis A3. Am Abend des 15. August 1969 war die dritte Nordwand-Route vollendet.
Doch es sollte noch direkter gehen: 1978 folgten tschechische Bergsteiger den Spuren von Sedlmayr und Mehringer bis zum Zweiten Eisfeld und kletterten zwischen Harlin- und Japaner-Route durch die Gipfelwand. Unterhalb der "Fliege", dem Eisfeld rechts oberhalb der Spinne, riss eine gewaltige Lawine die Führenden Jiri Pechouš und Jiri Šlégl in die Tiefe.
Fünf Jahre später vollendete der Slowake Pavel Pochylý die "Ideal-Direttissima" der Tschechen - in einem 13-tägigen Alleingang und, etwas ungewöhnlich für die Eigerwand, in aller Stille ohne Medienrummel.
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Ab Mitte der 1980er-Jahre verlagerten sich die Kletteraktivitäten in den extrem steilen und kompakten Wandteil rechts der Roten Fluh, durch den heute mit "Symphonie de liberté" von Robert Jasper und "Paciencia" von Stephan Siegrist und Ueli Steck (beide X-) die schwierigsten Nordwand- Routen führen.
Aber auch im Zentralteil der Wand, dem eigentlichen, klassischen Nordwand-Terrain, wurde weiterhin Neuland betreten: 1991 kletterte der Amerikaner Jeff Lowe im Alleingang die kühne und bislang nicht wiederholte "Métanoia" zwischen Japaner- und Pochyl´y-Direttissima; 2001 eröffneten die Schweizer Ueli Steck und Stephan Siegrist "The Young Spider" zwischen Heckmair- und Harlin-Route, und 2006 legte ein russisches Team um den Krasnojarkser Bergsteiger Ewgenij Dmitrienko "ihre" Direttissima zwischen die von Harlin und Pochylý.
Schließlich hielt auch die Freikletterbewegung Einzug in das Herz der Eigerwand. Hauptdarsteller auf der senkrechten Bühne waren der Deutsche Robert Jasper und Roger Schaeli aus der Schweiz. Im Spätsommer 2009 gelang ihnen zunächst die erste freie Begehung der Japaner-Direttissima. Aus der Bohrhakenleiter in der Roten Fluh wurden Sportkletterseillängen mit einem gewissen Etwas: "
Ungefähr die Hälfte der Griffe in der Roten Fluh sind vom Schmelzwasser nass. Mit nassen, eiskalten Fingern schnappe ich nach winzigen Griffen. Auf nassen Tritten versuche ich die einstudierten Bewegungsfolgen der Schlüsselpassage zu meistern. Im dritten Versuch gelingt mir die Schlüsselseillänge (X-)", so Jasper gegenüber Alpin.
Der Sphinx-Pfeiler in der Gipfelwand wartete nochmals mit Stellen im XI. Grad auf, in denen Schaeli kämpfte "wie ein Samurai". Ein Jahr darauf "befreiten" Jasper und Schaeli auch die John-Harlin- Route (M8, 7a, E5).
Weil die Ausstiegswand über der Spinne kein Eis hatte und nur eine Pulverschneeauflage trug, beendeten sie die Kletterei über die Ausstiegsrisse der Heckmair-Route.
Was bleibt also nach 75 Jahren vom Mythos Eiger-Nordwand? Für eine breite Öffentlichkeit ist sie weiterhin Inbegriff des extremen und heroischen Bergsteigens. Die frühen Tragödien üben eine morbide Faszination aus, die sich in den letzten Jahren in Büchern mit teils schockierenden Archivaufnahmen und einem großen Spielfilm niederschlug.
Für die Bergsteiger hingegen ist sie eine "vertikale Arena", in der sie ihr Spiel in allen Variationen spielen und ihre Grenzen ausloten können. Roger Schaeli hat sich nach 35 Durchsteigungen kürzlich einen alten Wohnwagen am Fuß des Eigers gekauft, um bei guten Verhältnissen schnell vor Ort zu sein.
Und Robert Jasper, der die Wand über zwanzig Mal geklettert ist, brachte die heutige, veränderte Haltung gegenüber der ehemaligen "Mordwand" auf den Punkt: "Die Wand bietet so viele Reize für neue Ideen und neue Linien. Für mich heißt es nicht 'einmal Eiger-Nordwand' sondern 'immer wieder Eiger-Nordwand'!"
Aus ALPIN 08/13
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