Dutzende Male vorbeigefahren, auf dem Weg zu den Routen, die gerade anderswo anstanden.
Seine massige Gestalt hatte man schon aus allen Blickwinkeln, vom Bosconero und der Civetta aus, im Abendlicht vor sich hindämmern sehen. Kauzige Namen hat man sich für ihn ausgedacht - Schichttorte, Hobbitfestung, Scheinriese.
Wenn seine massige Gestalt im Rückspiegel verschwand, fiel fast rituell der Satz, dass man ja irgendwann doch mal da hinauf müsste, auf das Trumm. Da träumte er also vor sich hin, der Riese, der isoliert und geradezu als eigenständiges Massiv mitten im Herzen der Dolomiten steht.
Oft wird er wohl nicht gestört in seinem Schlaf; die einschlägigen Auswahlführer ignorieren ihn völlig. Alpinistische Sporen gibt es nur in der völlig aus der Mode gekommenen, recht brüchigen Nordwand zu verdienen.
Dafür hat der Pelmo aber einen ganz anderen Reiz, der, nebenbei bemerkt, wohl einer der Hauptgründe für sein Dornröschendasein ist:
Man kann sich ihm nur per pedes nähern, denn keine Seilbahn, keine Straße führt zu seinen Flanken. Und Klettersteige gibt’s hier auch keine.
Ein günstiger Ausgangspunkt für eine umfassende (oder eher: umrundende) Erkundung des Pelmo ist der Passo Staulanza, also der Pass, der hinüber in das Val di Zoldo führt. Und gleich bei der ersten Etappe, die nach einer Tageswanderung am Rifugio Venezia endet, wird man mit Ansichten einer stillen, verwunschenen, fast unheimlichen Landschaft belohnt.
Der Pfad führt einen ohne große Höhenunterschiede zunächst durch einen wunderschönen Wald, dann über Hochmoore, die in ihrer fremdartigen Anmutung genauso gut in Feuerland oder Schottland liegen könnten. Schließlich passiert man einen etwa 100 Meter hohen, absurd solitär stehenden Felsturm, der seiner Form nach an Kalksteinauswüchse in deutschen Mittelgebirgen erinnert.
Noch ganz in der bukolischen Ruhe der Wanderung verhangen, kommt man dann an der Hütte an - dem Rifugio Venezia. Venedig. Karneval. Laut. Viele Menschen. Exakt diese Assoziationen können sich einem aufdrängen, wenn man zufällig gerade in die Feierlichkeiten zum 120-jährigen Bestehen dieser eigentlich sehr kommoden alpinen Zuflucht platzt. Musikboxen plärren Bespaßungssalven in eine hundertköpfige, stark alkoholisierte Menge. Wäre alles nicht so schlimm, wenn die Damen und Herren Feiernden nicht das ganze Bier ausgetrunken hätten.
Ein im Wortsinne total nüchternes Picknick in sicherer Entfernung zur Hütte ist die Folge. Irgendwann kurz vor Sonnenuntergang werden die versammelten Schnapsleichen dann wieder per Jeep-Taxi ins Tal befördert und Ruhe kehrt ein. Endlich.
Klicken Sie sich durch die Fotogalerie der Tour auf den Monte Pelmo.
Am nächsten Morgen dann die Besteigung des Pelmo, die in vollkommener Einsamkeit vor sich geht. Am "Einstieg" zum Ball-Band angekommen, das seinen Namen dem Erstbesteiger des Pelmo von 1857 - Sir John Ball - verdankt, wird man von dem in knallrot auf die Felswand gepinselten italienischen Wort "Attacco" begrüßt. Zweifelsohne wurde dieser Schriftzug von begnadeten Ironikern dort angebracht, denn mit einer schneidigen Attacke hat die Sache nur entfernt zu tun.
Dennoch begibt man sich nun in eine andere Welt, auf einen labyrinthischen Steig, der einen mit großer bergsteigerischer Intuition durch ein Meer aus Fels führt. So stiefelt man teilweise recht ausgesetzt und luftig rund einen Kilometer durch die Ostwand, bis man auf einen monströsen Schuttkessel stößt - ein Amphitheater des Schutts geradezu, in dem die Natur ihr endloses Drama von langsam zerbröselndem Fels zur Aufführung bringt.
Zuvor aber die Schlüsselstelle, der Passo del Gatto, der normalerweise kriechend zu überwinden ist. Ein paar Bohrhaken sind mit einer Reepschnur zu einem Geländer verbunden; lange wird das nicht halten, aber dadurch erübrigt sich zumindest jetzt die Kriecheinlage. Damit kommt der Sache zwar der Hauch von Abenteuer abhanden, aber dafür sieht man hinterher auch nicht aus, als hätte man gerade an einer Infanteriegrundausbildung teilgenommen. Der "Schlüsselstelle" glücklich entronnen, folgt dann - jedenfalls unter Gesichtspunkten der kardiovaskulären Ertüchtigung - das "Highlight" des Weges:
Nämlich das Hinaufwühlen in die oberen Rängen des Schuttamphitheaters. Sisyphos hatte ja keine Ahnung … Über eine Steilstufe gewinnt man schließlich den oberen Teil des Kessels, wo früher mal ein ansehnlicher Gletscher hing, heute aber nur noch, äh ja, Schutt herumliegt.
Bei der Orientierung helfen einem diverse Steinmänner. Oder auch nicht, denn offenbar haben hier viele Menschenkinder Freude am Errichten solch kleiner Steinhäufchen gehabt, dabei aber ihren eigentlichen Bestimmungszweck völlig vergessen. Gerade im hier häufig auftretenden Nebel kann das zu lustigen Szenen führen, die dazu angetan sind, die Diskussionskultur in der jeweiligen Wandergruppe auf eine harte Probe zu stellen.
Schließlich erreicht man den Grat zwischen Spalla Sud und Hauptgipfel, über den es herrlich luftig zum höchsten Punkt des einsamen Riesen geht. Beeindruckende Ansichten der unter einem liegenden, eintausend Meter hohen Nordwand inklusive.
Direkt unter dem Gipfel gibt es als Schmankerl die einzige wirkliche Kletterstelle - eine kleine Wand, die mit einer nur bedingt rassigen II (UIAA) zu Buche schlägt.
Das nagelneue Gipfelkreuz steht etwas deplaziert in der Landschaft, aber Aus- und Anblicke um uns herum lassen jeden Gedanken an von Menschenhand gefertigten Tinnef verstummen. Wie einst vielleicht der Schöpfer selbst, überblickt man fast alle Dolomiten-Massive und die Zeitlupenschlacht der Geologie, die hier tobt.
Wieder auf der Hütte lautet ein Fazit, dass derjenige, der Schutt nicht kann, nicht gerade am Pelmo anfangen sollte, es zu üben. Aber das ist nur ein respektloser Nebensatz, der schnell an Bedeutung verliert - gemessen an den großartigen Blicken, die uns bei der Wanderung geschenkt wurden.
Text: Christoph Willumeit